Frei oder geführt

 

Sind Aufstellungen nur ein Fenster
zur Entdeckung der überall vorhandenen Synchronizität?

 

Wie lehrt oder lernt man den Umgang mit Aufstellungen? Wie kann man die Qualität von Aufstellungen erhöhen und ihre Wirkungen optimieren? Wie funktionieren Aufstellungen am besten? Wie ist die rechte innere Haltung als Aufstellungsbegleiter? Welche Intervention unterstützt den Erkenntnis- und Entwicklungsprozess der aufstellenden Person?
Ein eher zufälliges Experiment hat mich mit einem Schlag von all diesen Fragen befreit und mein Weltbild in eine vollkommen neue Richtung gelenkt.
Ich wollte mit drei Freunden eine Glaubenspolaritätenaufstellung (nach Varga von Kibéd und Sparrer) durchführen. Dazu wären vier Stellvertreter nötig gewesen: der Fokus und die Pole Liebe, Erkenntnis und Ordnung. Mir standen jedoch nur drei Personen zur Verfügung, und so nahm ich gleich selbst meinen Platz als Fokus ein. In letzter Zeit habe ich das "verdeckte" Aufstellen schätzen gelernt, bei dem die Stellvertreter nicht erfahren, wen sie darstellen sollen, und sich trotzdem "stimmig" verhalten. Bisher war ich davon ausgegangen, dass die innere Vorstellung der aufstellenden Person telepathisch auf die Stellvertreter wirkt. Denn diese Person ist beim verdeckten Aufstellen der einzige Mensch, der weiß, wen die Stellvertreter vertreten. Sie bestimmt selbst und gibt innerlich den Stellvertretern ihre Rollen.
Als ich bei meiner geplanten Polaritätenaufstellung nun gleich selbst meinen eigenen Platz als Fokus einnahm, wollte ich jedoch trotzdem meine Unkenntnis darüber bewahren, welcher Stellvertreter welchen Pol darstellte, um "unbeeinflusst" meine Gefühle gegenüber diesen Polen wahrnehmen zu können. Und so kamen wir auf die Idee, die Pole auf Zettel zu schreiben und jeden Stellvertreter einen Zettel ziehen zu lassen, ohne dass jemand nachschaute, was auf diesem Zettel stand. In dieser Aufstellung hatte also jeder Stellvertreter einen Zettel in der Hosentasche, keiner wusste, was auf seinem Zettel stand, und auch ich wusste nicht, wer welchen Pol darstellte: eine "Doppelblind-Aufstellung".
Ohne außenstehende Begleitung - nur im gemeinsamen Austausch untereinander - ließen wir unseren Gefühlen freien Lauf, und die Aufstellung bewegte sich ganz autonom bis zu einer mir sehr angenehmen Lösung. Am Ende ahnte ich, wer welchen Pol darstellte. Ich gab Tipps ab ... die Stellvertreter schauten auf ihre Zettel ... und es stimmte!
Wie war das möglich?
Ich beschloss, in meiner Experimentiergruppe dieses Phänomen zu überprüfen. Wir führten Aufstellungen durch, in denen die Stellvertreter verdeckte Zettel mit von der aufstellenden Person notierten Rollenbezeichnungen zogen, ohne sie anzuschauen. Aufgrund des anfänglichen Verhaltens der Stellvertreter gab dann nach einer gewissen Zeit die aufstellende Person einen Tipp ab, wer welche Person oder welches Element repräsentierte. Die Trefferquote war erstaunlich hoch. Und vor allem: Dort, wo die Tipps verkehrt waren, konnte die aufstellende Person trotzdem der durch die Zettel aufgedeckten Rollenverteilung zustimmen. Oft kam eine Fehldeutung dadurch zustande, dass bestimmte Verhaltensdynamiken auf mehrere Stellvertreter zutrafen.
Auffällig war zusätzlich, dass keine aufstellende Person klar sagen konnte, dass das Verhalten eines Stellvertreters mit seiner am Schluss aufgedeckten Rolle absolut nicht übereinstimmte. Es passte nachträglich immer und ergab einen Sinn.
Wie kann ein Stellvertreter unbewusst eine Rolle stimmig darstellen, wenn niemand im Raum weiß, wen oder was er überhaupt vertritt? Nur ein verdeckter Zettel in der Hosentasche des Stellvertreters enthält die Information. Bedeutet das nun, dass Stellvertreter diese Information "erspüren" können?
Doch welche Interpretation am besten zu diesem (für jeden nachprüfbaren) Phänomen passt, muss wohl jeder für sich selbst entscheiden. Welche Deutung, welches Weltbild ist für ihn stimmig?
Für mich war diese Entdeckung des so klaren "Nicht-Zufalls" das Tüpfelchen auf dem i. Ich hatte schon vorher in meinem Alltag immer deutlichere Erlebnisse, in denen ich Synchronizitäten entdeckte, die keiner Ursache-Wirkung-Erklärung Raum gaben. Z.B. beschäftigte ich mich einen Tag lang mit einem bestimmten persönlichen Thema. Als ich dann in den späten Nachmittagsstunden in einer Pause den Fernseher anschaltete und eine Star-Trek-Folge ansah, wurde ich auch hier mit dem gleichen Thema konfrontiert. Die Raumschiffcrew durchlitt genau das, was mich schon den ganzen Tag beschäftigte. Mehr noch: Das Happy-End gab mir eine Lösung.
Ich denke an die vielen "stimmigen" Momente, in denen ich zu Tarotkarten, Engelkarten oder zum I-Ging griff, um Hilfen für meine gegenwärtigen Launen zu erhalten. Warum bewegen mich die Antworten, die ich von spontan gezogenen Orakel-Karten erhalte, tief in meiner Seele und passen zu meiner Situation? Zu meinen Fragen?
Zufall? Telepathie? Beeinflussung?
Nein, für mich passt jetzt nur noch ein Begriff: Synchronizität. Und diese Synchronizität ist genau das, was uns in Aufstellungen besonders intensiv begegnet. Warum? Weil wir hier gezielt unsere Aufmerksamkeit darauf lenken. Doch sie ist überall vorhanden. Wir brauchen auch im Alltag nur unsere Aufmerksamkeit auf sie zu richten. Und ich behaupte: Dort, wo wir keine Synchronizität entdecken, ist sie trotzdem vorhanden. Wir Menschen sind nur auf unseren kleinen Horizont beschränkt und können sie in diesem Moment noch nicht bewusst wahrnehmen. Jede Horizonterweiterung, jede Bewusstseinserweiterung, jeder Entwicklungs-prozess führt automatisch zu immer häufigeren Erkenntnissen von Synchronizität - weil sie einfach überall vorhanden ist, in jedem kleinen Detail und in jeder übergeordneten Gesamtdynamik.
Was ist jetzt für mich die Konsequenz, die sich aus diesem neuen Weltbild ergibt?
Das Universum ist perfekt - wir können (oder wollen oder müssen) es nur nicht immer sehen. Jedes Geschehnis hat seinen Platz, gehört dazu, hat seinen Sinn und Zusammenhang.
Das "Falsche", die "Fehler", das "Schlechte", das "Böse", das "Zu-Vermeidende" sind nur Zeichen von gezogenen Grenzen. Alles, was innerhalb dieser Grenzen gesehen wird, gehört dazu und ist "richtig". Alles, was außerhalb dieser Grenzen eingeordnet wird, gehört nicht dazu und ist falsch.
Gibt es keine Grenze, dann gibt es auch keine Wertung - und das Universum wird als absolut vollkommen erkannt, in perfekter Harmonie mit sich selbst. Auf dieser Ebene gibt es keine Ziele, für die der eine Weg richtig und ein anderer Weg falsch wäre. Man "ist" einfach nur. Das "Sein" ist das einzige, das ohne Wertung ist, denn es gibt kein "Nicht-Sein", also kein Bereich, der ein "falsches Sein" wäre.
Da wir in Aufstellungen oft einfach nur "sind", anders als in alltäglichen Situationen mit unseren Zielen, Wünschen und Vorstellungen, zeigt sich uns hier viel deutlicher die Synchronizität. Besonders aber, wenn man mutig Aufstellungen ohne jegliche Wertungen (d.h. ohne Grenzen, Beschränkungen, Regeln, Richtlinien, Überzeugungen, Befürchtungen, ...) ermöglicht. Gerade bei solchen "freien" Aufstellungen kann durch gezielte Beobachtungen und Benennung aller Geschehnisse in der Aufstellung und um die Aufstellung herum die Fasziniation von Synchronizitäten erlebt werden.
Wer von der Ebene der Synchronizität auf die anderen Ebenen schaut, in denen Ziele, Grenzen, Vorstellungen, Wertungen, ... vorhanden sind, kann diese erkennen als einfache Formen, die zu allem dazugehören und nichts anderes "sind" als eben Formen, die begrenzen.
Bisheriges Weltbild: Es kann derjenige Aufstellungsleiter am besten seinen Teilnehmern helfen, der achtungsvoll auf die Schicksale seiner Teilnehmern schaut, absichtslos handelt, sich selbst und seine eigenen Vorstellungen zurückhält, ein fundiertes psychotherapeutisches Wissen besitzt, viele Erfahrungen vorweisen kann, eine offene Haltung zeigt, mutig und freundlich ist, keine Dogmatik an den Tag legt.
Dazu im Vergleich das Weltbild der Synchronizität: Die Synchronizität findet auch ohne Aufstellungsleiter statt. Eine Aufstellung kann genauso gelingen und wirken, wenn sich ein paar Menschen zusammentun und sich gegenseitig als Beobachter oder als Stellvertreter Gefühle, Sichtweisen und Handlungsvorschläge anbieten. Ausschlaggebend sind die Erkenntnisse, die der Aufstellende zum für ihn passenden Zeitpunkt für sich selbst gewinnt.
Ein qualifizierter Aufstellungsleiter wird in dem Moment benötigt, wenn Menschen nach ihm suchen, wenn sie also ein Ziel in Verbindung mit bestimmten Vorstellungen haben. In diesem Fall sind auch Wertungen und Grenzen vorhanden, aus denen heraus man sagt, dass ein unqualifizierter Aufstellungsleiter schlecht (dem Ziel nicht dienlich) und ein Qualifizierter gut (dem Ziel dienlich) ist.
Des Weiteren wird im Weltbild der Synchronizität gesehen, dass ein "Fehlverhalten" eines Leiters genau in dem Moment auftaucht, in dem TeilnehmerInnen oder auch der Leiter selbst aus diesem Fehlverhalten lernen wollen/sollen. Synchronizität. Perfektion des Universums.
Bisheriges Weltbild: Man kann das Aufstellen erlernen. Es werden dazu unterschiedliche Ausbildungskurse angeboten.
Weltbild der Synchronizität: In einer Ausbildung für Aufstellungen lernt man die Ziele, Vorstellungen und Grenzen des Weltbildes desjenigen kennen, der die Ausbidlung durchführt.
Was passiert, wenn jemand von der "Tiefe" einer Aufstellung schwärmt? Er wertet. Er geht davon aus, dass es Aufstellungen gibt, die weniger tief sind, vielleicht sogar flach, lasch, oberflächlich oder chaotisch.
In diesem Fall kann man eine momentane Grenze in seinem Weltbild erkennen. Er selbst ist durch diese Grenze nicht in der Lage, die Oberflächlichkeit oder das Chaos einer Aufstellung als stimmige "Tiefe" zu sehen. Denn eine scheinbar oberflächliche Aufstellung kann eine bestimmte Synchronizität zu der aufstellenden Person zeigen. Wenn man dies erkannt hat, kann man auch das Oberflächliche und Chaotische für einen "tiefen" Erkenntnisprozess nutzen.
Was ist, wenn jemand enttäuscht berichtet, eine Aufstellung habe nicht gewirkt? Er wertet. Er geht davon aus, dass es Aufstellungen ohne jegliche Wirkung gibt.
In diesem Fall kann man eine momentane Grenze in seinem Weltbild erkennen. Er selbst ist dadurch nicht in der Lage, z.B. die Erkenntnis der Wirkungslosigkeit selbst oder sogar seine Enttäuschung als eine bestimmte Form der Wirkung zu erkennen.
Was geschieht, wenn jemand euphorisch von einer "freien" Aufstellung spricht? Er wertet. Er geht davon aus, dass es Aufstellungen gibt, die unfrei sind, eingeengt, begrenzt.
In diesem Fall kann man eine momentane Grenze in seinem Weltibld erkennen. Er selbst ist durch diese Grenze nicht in der Lage, die Beschränkungen in einer Aufstellung als eine bestimmte Form zu erkennen, die der aufstellenden Person etwas geben oder spiegeln und somit dem Erkenntnis- und Wachstumsprozess dienen kann.
Und was ist, wenn jemand wertend feststellt: Hier wertet ein Mensch? Es geht davon aus, dass Wertung etwas Negatives ist und erkennt nicht, dass sie auch dazugehört und für wichtige Erkenntnisprozesse genutzt werden kann. Unterschiede, Grenzen, Wertungen gehören zum Lebensprozess. Sie "sind".
Jede Freiheit ist geführt. Und jede Führung ist frei gewählt. Synchronizität ist überall. Und wir erkennen sie dort, wo wir diese Erkenntnis benötigen. Alles gehört dazu, selbst der Ausschluss und die Grenze. Alles ist, was es ist. Selbst wenn wir die Synchronizität nicht erkennen, so gehört auch das dazu.
"Die Perfektion des Universums zeigt sich in der Synchronizität.
Je mehr wir die Synchronizität erkennen, desto mehr erkennen wir die Perfektion des Universums" (Jacqueline Schwindt, Aufstellerin)
Für mich stellt sich nicht mehr die Frage: Wie gelingen Aufstellungen? Sondern ich frage mich: Wie gelingen lösende Erkenntnisse?
Hat eine Erkenntnis eingeschlagen, erkenne ich oft hinterher, dass es gar nicht anders hätte kommen können - nicht früher und nicht später. Das Universum ist perfekt ...

... und egal, was jetzt für weitere Gedanken oder Widersprüche oder Einwände oder Ergänzungen entstehen: Auch das gehört dazu, "ist" einfach und kann für den eigenen Erkenntnis- und Wachstumsprozess genutzt werden.

 

Autor: Olaf Jacobsen     Erschienen in: "Systemische Aufstellungspraxis" Heft 1, 2005, S. 28 ff.

 

 

Inhaltsverzeichnis:

 

"Die Konsequenzen eines jungen Aufstellungsleiters", 2002
"Frei oder geführt?", 2005
"Das Potenzial zur Selbstentfaltung", 2006
"Missverstanden - Das freie Aufstellen ergänzt", 2006
"Frei ist nicht gleich frei", 2007
"Verstrickte Gefühle - Familienstellen hilft", 2007
"Familienprobleme - oft nur Theater?", 2008
"Wünsche wecken Wirkungen und Wertungen", 2010
"Interview mit Olaf Jacobsen - von Ilka Baum", 2011

"Das Potenzial der Freien Systemischen Aufstellungen" - PDF-Datei, 2011

 

 

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